Liebe Blütenlesende
„Ehrlich währt am längsten“ höre ich meine Grossmutter selig auch heute noch deutlich sagen, mit ihrem breiten, schweizer-“hochdeutschen“ Ä, dem kratzigen CH, und dem gerollten R. Entweder es war ihr Lieblingssprichwort, und sie sagte es ständig, oder es fiel bei mir einfach auf besonders fruchtbaren Boden. Jedenfalls begleitet es mich dank ihr schon mein Leben lang.
Als Kind glaubte ich, mit dieser Ehrlichkeit sei lediglich gemeint, ich müsse zugeben, wenn ich etwas ausgefressen habe und ganz sicher, dass ich nicht anderen die Schuld dafür geben sollte. Ja, darum ging es bestimmt auch. Dass dies aber genau so auch im übertragenen Sinne und auf den Spielplätzen der „Erwachsenen“ zutrifft, lern(t)e ich erst in aktuelleren Jahren.
Ehrlichkeit ist nicht unbedingt, jemandem unaufgefordert seine eigenen „Sünden“ unter die Nase zu reiben. Ehrlichkeit ist schon gar nicht, dem anderen unaufgefordert dessen etwas dickeren Bauch vorzuhalten oder anderweitige Makel an ihm aufzuzählen und ihn somit auf seine „Verfehlungen“ hinzuweisen.
„Ich bin eben ehrlich und direkt“ pflegen die Menschen zu sagen, die für dieses Verhalten bekannt sind. Jedoch, wenn wir uns so verhalten, so bedeutet das in Wahrheit bloss, dass es uns nicht gelingt, ehrlich zu uns selbst zu sein, heisst, unsere schwachen, und meist eigenen Minderwertigkeitsgefühle anzunehmen. Dass wir so stattdessen versuchen unser Territorium abzusichern, indem wir eben zu allen gleich erstmal „ehrlich“ sind, bevor diese überhaupt bapp sagen können. Das ist missverstandene Ehrlichkeit, ja verletzendes Verhalten.
Ehrlichkeit kommt ja von Ehre und die wird in jenem Beispiel keiner der Parteien erwiesen.
Zuallererst uns selbst zu ehren, indem wir lernen zu uns selbst ehrlich zu sein, das ist der wohl heilsamste Aspekt von Ehrlichkeit.
Diese Ehrlichkeit setzt Selbstliebe voraus und kräftigt sie gleichzeitig.
Sich liebevoll die Wahrheit einzugestehen, die da sein mag: „Ich fühle mich gerade unsicher“, „Ich habe Angst“, „Ich fühle mich dumm und wertlos“ oder: „Ich fühle mich verletzlich und möchte mich zurückziehen“. Solche Dinge.
Denn, heureka!, ich DARF mich ja unsicher fühlen! Ich darf mich ängstlich, dumm, wertlos und verletzlich fühlen und ja, ich darf mich sogar zurückziehen! Ich DARF das alles fühlen, ja ich soll es offenbar, sonst wäre es nicht da. Es ist ok und ich brauche nicht dem anderen die Schuld dafür zu geben, dass ich nun etwas fühle, was ich bisher so fest abgelehnt habe. Im Gegenteil, ich könnte sogar versuchen ihm dankbar dafür zu sein, dass er in mir diese Gefühle auslöst, weil ich dadurch erst sehen kann, womit ich in mir selbst noch auf Kriegsfuss stehe.
Solange wir unsere Gefühle nicht für wahr nehmen wollen, bleibt es bei K(r)ampf und Krieg, innen wie aussen. Sobald wir sie sehen und zu uns nach Hause nehmen, kommt alles ins Fliessen, und plötzlich sehen wir unser Licht wieder strahlen und auch die wahre Schönheit im anderen, ob er nun einen Bauch hat oder nicht ;)
Alles Liebe.
Suva
...Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? (Matthäus 7.3)